Felix

Ich liege keuchend und zitternd in der Hofeinfahrt vor dem großen Tor. Neben dem Tor – auf einem kleinen Hügel thronend – der mächtige Rhododendronbusch. Mein Lieblingsplatz, der Sicherheit, Rundblick und Übersicht über mein Reich gewährt, ohne dass ich selbst gesehen werde. Ich versuche, mich vom Betonboden hochzustemmen. Der scheint aber wie Kaugummi an mir zu kleben. Ich sacke wieder zusammen, schaffe nicht einmal die kurze Strecke zu meinem Rückzugsort. Obwohl die Sommersonne auf meinen Rücken brennt, ist mir kalt. Schmerzen schütteln die Glieder durch und wollen einfach nicht aufhören. Sie kommen und kommen und überrollen mich in immer neuen Wellen.
                                 Ich weiß noch immer nicht so recht, was passiert ist. Überall neben und unter mir Blut. Stammt das von mir? Eben noch stand das Auto über mir, unter dem ich vor mich hindöste. Dann Schritte von irgendwo her, dann das Surren des Motors über mir und dann dieser stechende, unerträgliche Schmerz in meinem ganzen Körper. Seitdem ist mein Hinterteil wie gelähmt, eines meiner Augen scheint sich selbständig gemacht zu haben und steht vor dem Kopf, und in den Ohren brummt laut ein bösartiges Insekt, dessen Ton ich nicht kenne, das mir aber schreckliche Angst einjagt.
                      Merkwürdig! Vor meinem inneren Auge rollen auf einmal wie in einem Film Szenen und Situationen aus meinem Leben ab. Ich heiße Felix. Ein schöner Name, auf den ich immer stolz war. Wenn es um die Anzahl meiner Lebensjahre geht, bin ich wahrhaftig ein Felix, ein Glücklicher. Dreiundzwanzig Sommer hat mir der Meister der Zeit geschenkt. Ein stolzes Alter für einen meinesgleichen! Doch seit einiger Zeit ist mein Fell struppig und rau. Hier und da schimmert speckig wie abgewetztes Leder die Haut durch die altersgrauen Haare. Ich habe immer sehr auf meinen Körper geachtet. Meine Mutter pflegte zu sagen, wir hätten nur den einen und sollten ihn hegen und pflegen. Doch Körperpflege ist mir seit einiger Zeit nur noch eingeschränkt möglich. So sehr ich mich auch anstrenge, meine Pfoten wollen einfach nicht mehr über meinen Hinterkopf gleiten. Ich möchte nicht wissen, wie mein Rücken aussieht. Der Schnurrbart, Stolz eines jeden aus meinem Geschlecht, und die Reißzähne sind mir schon lange abhanden gekommen, mein ehemals eleganter Schwanz zu einem schlangenähnlichen Etwas verkommen. Wenn die Sonne scheint und alles verdoppelt, erschrecke ich manchmal vor meinem eigenen Schatten, der langsam und krummrückig dahergeschlichen kommt.
                                    Was war ich für ein schönes Tier! Mit dem samtweichen, schwarzen Fell, dem weißen Latz, der Brust und Kehle schmückte, und den weißen Pfoten, die beim schnellen Lauf wie Schneeflocken wirbelten. Wenn meine Dosenöffnerin mich mit einem Stück Leberwurst, für die ich mich wegwerfen kann, dazu brachte, wie ein Mensch auf den Hinterbeinen zu balancieren und meinen Körper geschmeidig-lang zu strecken, pflegte sie auszurufen: „Schau mal, Gerry,  sieht Felix nicht wie ein kleiner Dirigent aus! Fehlen nur noch Fliege und Taktstock.“ Ich weiß zwar nicht, wie ein Dirigent aussieht und was ein Taktstock ist, aber es muss etwas Besonderes sein. Gerry, der Gefährte ihrer Tage und Nächte, pflegte dann etwas zu brummen, was sich wie „Ja, ja, Eri, wenn Du meinst“ anhörte. Meine Schönheit und Eleganz schienen ihn wenig zu beeindrucken, geschweige denn in Emphase zu versetzen. Auch meinem Gesang, der die Damen meiner Art verzückte, konnte er anscheinend wenig abgewinnen. Wie oft bereitete ein Eimer Wasser, den er lautlos und hinterlistig aus dem Schlafzimmerfenster schüttete, meiner schönsten Nacht-Arie ein abruptes Ende! Wie ich das hasste! Ich rächte mich gewöhnlich, indem ich heimlich seine Hosen wässerte, wenn er sie unvorsichtigerweise irgendwo abgelegt hatte, und markierte gleichzeitig so mein Revier.
                                     Eigentlich besaß auch sie kein Faible für mich. Freiwillig hätte sie mich nie in ihren Haushalt aufgenommen. Dass ich dem eines Tages von jetzt auf gleich zugehörte, lag an meiner Mutter, die wie üblich ihre Jungen, sobald sie die Augen öffnen und sehen konnten, auf die Häuser in der Nachbarschaft verteilte hatte. Mit dem Auftrag, dort zu bleiben und sich ein rechtes Aus- und Einkommen zu sichern. Das war nun schon dreiundzwanzig Jahre her.
                                             Meine Dosenöffnerin mochte überhaupt keine Tiere, und vermutlich hatte es auch nie ein Tier geschafft, in ihre Wohnung einzudringen. Sogar Fliegen und Spinnen verfolgte sie unerbittlich. Nichts Animalisches duldete sie in ihrem Revier, weder tot noch lebendig. Sie aß nichts Fleischiges, war Vegetarierin. Meine Angewohnheit, ihr frühmorgens stolz die nächtliche Jagdbeute an Vögeln und Kaninchen, Mäusen und Ratten auf der Terrasse zu präsentieren, hatte ich schnell aufgegeben, weil sie, statt Lobeshymnen auf einen erfolgreichen Jäger zu singen, regelmäßig Entsetzensschreie ausstieß und ihren Gerry aufforderte, die Schweinerei – wie sie es nannte – zu beseitigen. Auch den Katzenbrauch, zart um die Beine ihrer Dosenöffner zu streichen, wenn der Hunger oder ein anderes Bedürfnis sie quält, musste ich abstellen. Meiner eigenen Sicherheit wegen. Denn jedes Mal, wenn mein flaumiges Fell ihre Beine berührte, schrak sie derart zusammen, dass ich vor dem unwillkürlichen Zucken ihres Fußes nie sicher war und einen Rippenbruch oder gar den Verlust eines Auges riskierte. Sie sah wie eine Gazelle aus, trat aber wie ein Pferd. Doch hatte ich mich von Anfang an unbeirrt an ihre Fersen geheftet und sie zu meiner Dosenöffnerin erkoren. Sie hatte einen gewissen Duft an sich, der mich irgendwie magisch anzog. Es war aber nicht nur der Duft. Sie gehörte zu den Zweibeinern, die ein ausgeprägtes Pflichtgefühl besaßen. Denn trotz ihrer Tieraversion sorgte sie zuverlässig für mich, ja, verwöhnte mich, ohne viel zu sagen, mit diesem und jenem, von dem sie wusste, dass ich es mochte. Und das über dreiundzwanzig Jahre!
                         In die Wohnung gelangte ich allerdings erst, als sie selbst drei Junge geworfen hatte, die im Laufe der Jahre meine Spielkameraden wurden. Gott sei Dank setzte sie nur einmal drei in die Welt und nicht wie meine Mutter jedes Jahr drei. Drei waren anstrengend genug. Sie blieben erstaunlicherweise auch im Haus. Meine Dosenöffnerin verteilte sie nicht wie meine Mutter ihre Kleinen auf die Häuser in der Nachbarschaft. Als sie dann aus eigenem Antrieb – eins nach dem anderen – das Haus verließen, verfiel ich so der Trübsal, dass ich eine Woche lang vor Kummer jede Nahrung verweigerte, sogar die Leberwurst nicht anrührte, die die Herrin der Dosen vor meiner Nase präsentierte. Ich blieb mit Gerry und Eri allein, und es wurde einsam und still.
     Wie lange ich schon in der Einfahrt liege, weiß ich nicht. Jedenfalls schreckt mich die Stimme meiner Dosenöffnerin aus dem Dunst meiner Erinnerungen auf. Ihr Kommen habe ich gar nicht bemerkt. Wie durch einen dichten Nebel sehe ich ihr Auto dicht vor mir stehen. Der Motor läuft. Anscheinend hat sie mich erst im letzten Augenblick gesehen. „O Gott“, jammert sie, neben mir auf die Knie fallend, „was ist denn mit dir passiert? Wie siehst du aus? Hat dich jemand überfahren? … Bin ich das etwa gewesen? … O mein Gott, das wäre ja schrecklich! Du armes Tier! Dabei bin ich nur gefahren, um für dich Futter zu holen. Das kann doch nicht wahr sein!“ Zitternd kniet sie neben mir und streichelt mich ganz sanft, was sie noch nie getan hat. In dreiundzwanzig Jahren nicht ein einziges Mal. Dankbar versuche ich ihre Hand zu lecken. Sie lässt es geschehen. Tropfen fallen auf mich. Weint sie etwa? Tatsächlich! Ihr Gesicht ist tränenüberströmt.
            Vorsichtig hebt sie mich auf, trägt mich ins Wohnzimmer und legt mich auf den flauschigen Teppich, den ich so sehr liebe, der für mich aber immer tabu gewesen ist. Er ist so weich, dass ich fast meine Schmerzen vergesse. Doch wieder zieht die Kälte durch meine Glieder. Langsam wird es dunkel um mich. Ich spüre es: Der große Graue  kommt zu mir, um mich ins Elysium der Feliden zu geleiten. Gehorsam erhebe ich mich – es ist auf einmal ganz leicht – und folge ihm. Das Letzte, was ich höre, ist das Schluchzen meiner geliebten Dosenöffnerin. Es wird leiser und leiser und verstummt schließlich ganz.